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Beständeübersicht

Bestand

12743 Nachlass Rudolf Nicolai

Datierung1866 - 1968
Benutzung im Hauptstaatsarchiv Dresden
Umfang (nur lfm)1,70
Retronkonversion des Findbuches von 1987. Erstellt von Ingrid Grohmann.

Lebenslauf von Dr. Rudolf Nicolai

Anhand des vorliegenden Nachlasses stellt sich Dr. Rudolf Nicolai als ein bürgerli-cher Reformpädagoge aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar, der über den erzgebirgischen Raum hinausgehend in ganz Deutschland auf dem Gebiet der Schullandheimbewegung eine bedeutende Rolle gespielt hat. Er war 1911 bis 1945 als Lehrer am Staatsrealgymnasium in Annaberg im Erzgebirge angestellt und gleichzeitig in den Jahren 1926 bis 1934 als Vorsitzender des Reichsbundes der deutschen Schullandheime e.V., Sitz Berlin, tätig. Die nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland aufkommende Schullandheimbewegung als ein zeitbedingter Reform-versuch des Schulwesens bildete seine Lebensaufgabe. Für diese hat er in den Folgejahren unermüdlich gewirkt und gekämpft. Für dieses Lebenswerk gebührt ihm Anerkennung und ein Platz in der Geschichte der bürgerlichen Pädagogik des 20. Jahrhunderts.
Rudolf Nicolai wurde am 1. Januar 1885 als viertes Kind des Pfarrers Karl Theodor Nicolai in Lauterbach im Obererzgebirge geboren, erhielt in den Jahren 1899 - 1905 eine humanistische Ausbildung an der ehemaligen Landesschule Grimma und stu-dierte anschließend bis 1909 an den Universitäten Greifswald und Leipzig Theologie, Geschichte und Literatur. 1910 schloss er sie mit dem Titel Dr. phil. und der Staatsprüfung für die Lehrbefähigung in den genannten Fächern ab. Nach einer Kandidatenzeit von einem Jahr an Gymnasien in Bautzen, Dresden und Zittau erfolgte 1911 die Berufung an das damalige Staatsrealgymnasium in Annaberg.
Der erste Weltkrieg und die Teilnahme an den Kampfhandlungen in Frankreich un-terbrachen seine berufliche Tätigkeit. Die Kriegserlebnisse und die schwere Verwundung 1916 ließen ihn menschlich reifen und mit neuem Elan in seinen Schuldienst zurückkehren. 1920 erhielt er zusammen mit einigen Kollegen durch den Verlag B.G. Teubner in Leipzig einen regionalen pädagogischen Auftrag zur Erarbeitung eines zeitgemäßen neuen Schullesebuchs für höhere Schulen, das sich am Frieden und der Menschlichkeit orientieren solle. Das daraufhin in sechs Bänden entstandene Lesebuch" Wägen und Wirken" für den Freistaat Sachsen gehörte bis zu seiner Abschaffung durch die deutschen Faschisten im Jahre 1936 zu den am weitesten verbreiteten Schulbüchern in Deutschland.
Der junge Lehrer fühlte sich nicht nur für die Bildung seiner Schüler, sondern auch für deren körperliches Wohlbefinden und ihre charakterliche Erziehung verantwortlich. Diesen Anliegen hatten sich bereits vor ihm andere verschrieben, Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts besonders Hermann Lietz, dessen erzieherische Bemühungen in den Landerziehungsheimen die "Wurzeln für die Schullandheimbewegung in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts bildeten (vgl. Nr.42). Da sich diese zusätzlichen Aufgaben nicht im Rahmen der wenigen Unterrichtsstunden durchführen ließen, strebten die Reformer mit ihren Schulklassen hinaus in die Natur und lebten ein bis vier Wochen zusammen, wobei der Schulunterricht dort fortgesetzt, eine gesunde Lebensweise mit Sport und Spiel praktiziert sowie - für die damalige Zeit wesentlich - eine kräftige, einfache Kost verabreicht wurde. 1922 erwarb Dr. Nicolai mit Hilfe einer holländischen Wohltätigkeitsspende für sein Gymnasium in Annaberg in dem ehemaligen Schützenhaus in Jöhstadt ein ideal gelegenes Schullandheim. Es gehörte und wurde fortan finanziert von dem eigens dazu gegründeten Bund der Eltern und Freunde des Annaberger Staatsrealgymnasiums, e.V., Sitz Annaberg. Von diesem Verein wurden die Mittel aufgebracht, um die Schulklassen geschlossen
in das Heim fahren zu lassen. Die Tagessätze selbst waren entsprechend dem Ein-kommen der Eltern differenziert, für Minderbemittelte wurden Freistellen geschaffen.

Auf einer Tagung beim Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht 1925 in Berlin erfuhr Dr. Nicolai, dass bereits etwa 100 Schullandheime unabhängig voneinander in Deutschland bestanden. Um sie zu konzentrieren und ihnen weiter zum Durchbruch zu verhelfen, erfolgte 1926 die Gründung des Reichsbundes der deutschen Schullandheime e.V., Sitz Berlin. Zu dessen ersten Vorsitzenden wurde Dr. Nicolai gewählt, und diese Funktion übte er durchgehend bis zur Auflösung des Reichsbundes 1934 aus. Innerhalb des siebenköpfigen Gesamtvorstandes war er zuständig für die Vertretung des Reichsbundes in allen gemeinsamen Belangen nach außen und innen, Verhandlungen mit den Behörden, Zusammenfassung der örtlichen Arbeitsgemeinschaften im Reich." Dem aufopferungsvollen "Wirken der mit Dr. Nicolai verbundenen Landheimenthusiasten war es zu danken, dass die Anzahl der Heime von 1926 auf 140 und 1930 auf 250 anwuchs. Darüber hinaus wurde der Austausch von Schülern zwischen Landheimen befreundeter Schulen initiiert, so reiste z.B. Dr. Nicolai mit seinen Schülern nun auch nach Wermingstedt auf der Insel Sylt, und die Hamburger Schüler erholten sich in Jöhstadt. Die Schullandheimbewegung hatte sich quantitativ und qualitativ erfolgreich entwickelt, als die Machtergreifung der deutschen Faschisten die weitere eigenständige Arbeit unmöglich machte. Im Rahmen der 11 Gleichschaltungspolitik wurde die Schullandheimbewegung nur noch innerhalb der NSDAP erlaubt. 1934 wurde der Reichsbund aufgelöst und die Schullandheime als eines der Reichssachgebiete in den NS-Lehrerbund eingegliedert. Dr. Nicolai bekam die Funktionen als Reichssachgebietsleiter in der Zentrale in Bayreuth und als Gausachgebietsleiter in Sachsen übertragen. 1935 hatte er schwere Kämpfe
mit der Hitlerjugend auszufechten, als diese die Schullandheime für sich beanspru-chen wollte, da ihr die Jugendherbergen bereits unterstellt waren. Aus diesem Kampf gingen die Schullandheime zwar erfolgreich hervor, sie behielten ihre Eigenständigkeit und wurden in den Folgejahren auch weiter ausgebaut, gerieten jedoch bezüglich ihrer proklamierten Zielstellungen und ihrer Terminologie zunehmend in den Strudel der Politik der braunen Machthaber. In den Jahren 1940 - 1945 konnten keine Schullandheimbelegungen mehr vorgenommen werden, denn die Heime mussten für die sog. Kinderlandverschickung für Kinder aus den bombengeschädigten deutschen Gebieten zur Verfügung gestellt werden.
In den Jahren 1943 - 1944 war Dr. Nicolai zusätzlich zu seinen beruflichen Aufgaben als Schriftführer der sog. Feldpostbriefe des VAR tätig (Zeitschrift des Verbandes ehemaliger Annaberger Realschüler und Realgymnasiasten), die den an verschiedenen Fronten des zweiten Weltkriegs kämpfenden ehemaligen Schülern als Verbundenheit mit der Heimat zugeschickt worden sind. Nach dem Zusammenbruch des faschistischen deutschen Staates im Mai 1945 wurden auf dem Gebiet der damaligen SBZ die Reste der braunen Vergangenheit liquidiert. Im Rahmen der in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung durchgeführten Sequestrierungs- und Entnazifizierungsmaßnahmen wurden auch alle NS-Vereine und deren Eigentum und somit auch die Schullandheime aufgehoben und Dr. Nicolai als ehemaliges NSDAP-Mitglied im November 1945 aus dem Schuldienst entlassen. Aus diesem Grund hat
er in den Jahren 1945 - 1948 unter schwierigen Existenzbedingungen leben müssen: war arbeitslos, ungelernter Arbeiter und Weber in Annaberger und Buchholzer Firmen und ab September 1948 als Katechet der Kirchgemeinde Buchholz tätig. Im Lehrerberuf konnte er nicht wieder arbeiten, er trat ab 1950 in das Rentenalter ein.

Seine Bemühungen bei der sächsischen Landesverwaltung bzw. Landesregierung, insbesondere bei dem ihm aus den zwanziger Jahren bekannten Staatssekretär für Wissenschaft, Kunst und Erziehung Dr. Menke-Glückert, zur Einbringung der Schullandheimbewegung in die antifaschistisch-demokratische Schulreform schlugen fehl.
1948 wurde ihm jegliche Eigeninitiative untersagt. Die Schullandheimbewegung als spezielle Form der bürgerlichen Reformpädagogik erfuhr in der DDR keine Reaktivierung.
Die Zusammenarbeit mit den befreundeten früheren Landheimkollegen in den westlichen Besatzungszonen erhielt Rudolf Nicolai zunächst auf privater Ebene aufrecht und nahm großen Anteil an der Wiederbelebung und dem Ausbau der Landheimbewegung in der BRD. Daraufhin wurde er auch offiziell Ehrenvorsitzender des neu gebildeten Verbandes deutscher Schullandheime, Sitz Hamburg. In den letzten Lebensjahren hat sich Rudolf Nicolai außerdem mit seinen Mitteln in den internationalen Friedenskampf eingeschaltet und darüber u. a. mit A. Schweitzer und M. Niemöller korrespondiert.
Am 17. Mai 1970 verstarb Dr. Rudolf Nicolai in Annaberg,


Geschichte des Nachlasses

Im Jahre 1987 wurde der Nachlass von der Enkelin, Frau Friederike Vogel, im Na-men der Erben in ungeordnetem Zustand dem Staatsarchiv als Geschenk überge-ben.
Aus archivwissenschaftlicher Sicht bildet er einen sogenannten echten Nachlass, denn er enthält nur Registratur- und Sammlungsgut von Dr. Nicolai selbst und ist - bis auf die Todesanzeige (vgl. Nr. 3) - nach seinem Tode nicht durch die Erben in-haltlich ergänzt worden. Dr. Nicolai hat seine Unterlagen mit wichtigen Papieren aus dem Leben seines Vaters Karl Theodor Nicolai angereichert (vgl. Nr. 1), ohne dass deshalb ein Familiennachlass zu bilden war, denn das Schwergewicht der Überlieferung liegt auf den Dokumenten Rudolf Nicolais.

Teile des Nachlasses wurden zu seinen Lebzeiten von ihm selbst dem Archiv des Bundesverbandes der deutschen Schullandheime in Hamburg und dem Archiv der deutschen Jugendbewegung auf der Burg Ludwigstein übergeben. Andere Teile wurden aber auch verschenkt oder vernichtet. So fehlen beispielsweise das Original seiner 11 Erinnerungen", die Unterlagen seiner Tätigkeit im Reichsbund der deutschen Schullandheime und Autographen aus der Zeit nach 1950 im Zusammenhang
mit seinem Friedenskampf.
Im Jahre 1987 erfolgte im Staatsarchiv die archivarische Bearbeitung des Nachlas-ses durch Archivarin Ingrid Grohmann. Die Substanz wurde lediglich um einige rein familiäre Schriftstücke und einige Dubletten vermindert. Das wissenschaftlich und personengeschichtlich bedeutende Material wurde zu dem vorliegenden Bestand formiert. Das Archivgut ist überwiegend erweitert, das Bibliotheksgut und das Foto- und Filmmaterial einfach verzeichnet worden. Das für den Nachlass aufgestellte Gliederungsschema entspricht den sachlichen Überlieferungsschwerpunkten und ist
chronologisch-sachlich angelegt. Insgesamt umfasst der Nachlass 77 Archivgutpositionen.

Im Archivgut des Nachlasses wird Rudolf Nicolai als eine im privaten und öffentlichen Leben auf einem pädagogischen Spezialgebiet stehende Persönlichkeit charakterisiert, dessen Gesamtwerk aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Struktur seiner Zeit, in die er es eingliederte, Ambivalenz besitzt.
Während die Schullandheimbewegung in der Weimarer Republik ein durchgängig positives theoretisches und praktisches Reformwerk darstellt, wird sie ab 1934 den Erziehungszielen der deutschen Faschisten untergeordnet.
Von der inhaltlichen Aussage her ist der Wert des Nachlasses hoch anzusetzen, denn es sind nicht nur Quellen zur Personengeschichte, sondern auch Informationen zur Geschichte des Schulwesens, speziell der Schullandheimbewegung und Informationen zur deutschen Geschichte und zur Regionalgeschichte bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts enthalten. Darüber hinaus tragen die im Nachlass archivierten Informationen dazu bei, die Quellenlage des Staatsarchivs in der staatlichen Überlieferung der Ministerien für Volksbildung vor und nach 1945 zu ergänzen bzw.
vorhandene Lücken zu schließen.
Formal besteht der Inhalt des Nachlasses aus Papieren, Manuskripten für Veröffentlichungen, Aufsätzen, Lebenserinnerungen, aber auch gesammelten Familien- und Zeitdokumenten, Druckschriften, Zeitungsausschnitten, Büchern sowie Diapositiven, Fotos und einem Film.
Der wesentlichste sachliche Inhalt besteht in Unterlagen über die Geschichte der Schullandheimbewegung in Deutschland. Sie wird als eine zeitbedingte Reform gegenüber bestehenden Schulverhältnissen in den zwanziger Jahren ausgewiesen, und ihre Ausgestaltung in den Folgejahren wird dokumentiert. Die Schullandheimbewegung stellt sich als ein aufeinander abgestimmtes System zwischen körperlicher Erholung, unterrichtlicher Unterweisung und erzieherischer Beeinflussung dar, das in der Folgezeit theoretisch durchdacht und praktisch perfektioniert worden ist.
Weitere inhaltliche Schwerpunkte bilden Unterlagen zur Schulgeschichte des Staatsrealgymnasiums in Annaberg und seines Landheims in Jöhstadt.
Im Nachlass überliefert sind ferner eine Reihe von Informationen, die den internationalen Stand der Freiluftschulen und die Ausstrahlung der Schullandheimbewegung auf das Ausland dokumentieren.
Materialsammlung zur Geschichte der Schullandheime und der Annaberger Heimatgeschichte.
Dr. Rudolf Nicolai lebte von 1885 bis 1970. Er war Lehrer am Staatsrealgymnasium in Annaberg und Vorsitzender des Reichsbundes Deutscher Schullandheime e. V.
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